Erdgas und Kernenergie: nachhaltig im Rahmen des Green Deal? Kommission schlägt ergänzenden Rechtsakt vor.
Am 31. Dezember 2021 hat die Kommission mit ihrem Vorschlag, Investitionen in Atomkraftwerke und Gaskraftwerke unter bestimmten Voraussetzungen als nachhaltig anzusehen, für Kontroverse gesorgt (zur Pressemeldung). Nach dem Willen der Kommission sollen solche Kraftwerke als Brückentechnologien übergangsweise weiter ausgebaut werden dürfen, anstatt abgebaut werden zu müssen. Konkret legt der Entwurf der Kommission fest, dass Genehmigungen für neue Atomkraftwerke unter die Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088 (sog. Taxonomieverordnung bzw. TaxonomieVO) fallen, soweit sie den neuesten technischen Standards entsprechen und ein Plan für die radioaktive Abfallentsorgung bis 2050 vorgelegt wird. Außerdem schlägt die Kommission vor, dass auch Gaskraftwerke als nachhaltig erfasst werden – wenngleich unter strengeren Voraussetzungen: So muss das eingesetzte Gas bis 2035 nurmehr geringe Emissionen aufweisen oder aus erneuerbaren Quellen stammen und es müssen alte Anlagen, die fossile Brennstoffe genutzt haben, ersetzt werden; ferner muss nachgewiesen werden, dass die Energieproduktion nicht durch erneuerbare Energien geleistet werden könnte.
Die TaxonomieVO ist als EU-Verordnung unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbar (Art. 288 Abs. 2 AEUV) und trat bereits am 12. Juli 2020 in Kraft (Art. 27 Abs. 1 TaxonomieVO). Sie stuft ein, was in Europa als grüne Investition gilt, welche Wirtschaftssektoren also mit Blick auf den Europäischen Green Deal als ökologisch nachhaltig gelten. Investoren sollen dadurch eindeutige, gleichartige Informationen zur Nachhaltigkeit von Finanzprodukten erhalten. Die TaxonomieVO beauftragt die Kommission, die technischen Bewertungskriterien zur Bestimmung der Nachhaltigkeit in sog. delegierten Rechtsakten festzulegen (Art. 3 lit. d, 23 TaxonomieVO). Die Kommission kann aufgrund dieser Ermächtigung mittels delegierter Rechtsakte Regelungen allgemeiner Geltung, wenngleich ohne Gesetzescharakter, erlassen. Entsprechend hat sie nun den Entwurf eines ergänzenden delegierten Rechtsakts zur TaxonomieVO vorgelegt.
Die Möglichkeit von Rat und Parlament, die Kommission zu delegierten Rechtsakten zu ermächtigen, ergibt sich grundsätzlich schon aus Art. 290 AEUV; dabei können delegierte Rechtsakte der Kommission freilich wesentliche Punkte des ermächtigenden Gesetzgebungsaktes weder ergänzen noch ändern; letzterer muss zudem neben der Ermächtigung auch deren Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer ausdrücklich festlegen. Rat und Parlament steht jedoch weiterhin das Recht zu, gegen den Vorschlag eines delegierten Rechtsaktes der Kommission binnen angemessener Frist Einwände zu erheben und damit das Inkrafttreten zu verhindern, oder aber sogar die Ermächtigung zu widerrufen (Art. 23 TaxonomieVO). Für die Ausübung dieser Rechte ist eine einfache Mehrheit des Parlaments bzw. eine qualifizierte Mehrheit im Rat erforderlich (Art. 290 Abs. 2 AEUV).
In einem ersten delegierten Rechtsakt vom April 2020 hatte die Kommission bereits technische Bewertungskriterien für Wirtschaftstätigkeiten festgelegt, mit denen ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz oder zur Anpassung an den Klimawandel geleistet werden kann. Die Frage, wie Gas und Atomenergie zu bewerten sind, hatte dieser Rechtsakt, der seit dem 1. Januar 2022 gilt, aber noch offengelassen.
Ihren jüngsten Entwurf, der die TaxonomieVO um Bewertungen zu Gas und Atomenergie ergänzt, hatte die Kommission auf Grundlage von Fach- bzw. Bewertungsberichten des eigenen wissenschaftlichen Dienstes und von Sachverständigengruppen erstellt. Die Vorlage des Entwurfs leitet nun die Konsultation der Sachverständigengruppe der Mitgliedstaaten für nachhaltiges Finanzwesen sowie der Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen ein. Die Frist für die Einreichung von Stellungnahmen läuft bereits am 12. Januar 2022 aus. Nach einer Überprüfung dieser Stellungnahmen wird die Kommission den Delegierten Rechtsakt voraussichtlich annehmen und sodann an Rat und Parlament weiterleiten. In Kraft treten kann dieser Rechtsakt freilich erst dann, wenn weder Parlament noch Rat binnen 4 Monaten (ggf. zzgl. weiterer 2 Monate) Einwände erhoben haben.
Im Parlament müssten mindestens 353 Abgeordnete für eine Ablehnung stimmen, um den Vorschlag der Kommission zu Fall zu bringen. Im Rat müssten sich sogar mindestens 20 der 27 EU-Mitgliedstaaten gegen den Vorschlag aussprechen, wobei diese Mitgliedstaaten mindestens 65 % der EU-Bevölkerung umfassen müssten (Art. 238 Abs. 2 AEUV). Das Zustandekommen einer solchen qualifizierten Mehrheit im Rat ist indes unwahrscheinlich: Zum einen haben große Mitgliedstaaten wie Frankreich eine starke Präferenz für Kernenergie. Zum anderen werden zugunsten AKW-skeptischer Mitgliedstaaten wie Deutschland auch Gaskraftwerke als nachhaltig klassifiziert. Tatsächlich haben sich bisher neben Österreich und Teilen der deutschen Koalitionsfraktionen nur wenige Mitgliedsstaaten gegen den Kommissionsvorschlag ausgesprochen.